Als bekennender Bahnhasser hatte ich eine interessante
Bahnfahrt von Flensburg nach Hamburg, die mich meine Ablehnung neu überdenken
lässt.
Ein paar alkoholisierte, jugendliche Vollspacken dröhnen die
anderen Fahrgäste mit einem miesen, deutschen Schlager über „meine Heimat ist
Mallorca“ in einer Endlosschleife aus schlechten Lautsprechern zu und sich
selbst dabei mit einigen Flaschen aus einer Kiste Flensburger Pilsener. Die Schaffnerin
ermahnt sie zweimal zur Rücksichtnahme bis die grausige Beschallung nach vielen
Zugkilometern endlich endet. Jetzt hört man sie dafür Rotze durch die Nasen
hochziehen und Rülpsen – 0:1 gegen die Bahn.
Die Fahrt über die Eisenbahnbrücke von Rendsburg wird
ausnahmsweise ein Plus für die Bahn. Wenn man bei der Reise durch
Schleswig-Holstein schon aufgehalten werden muss, dann bitte mit so schönen
Bildern dieses beeindruckenden Bauwerks und einem wunderbar rötlich, warmen
Licht über der Landschaft. 1:1 für die Bahn.
Hinter Rendsburg steigt eine junge Frau – ein Mädchen? – von
siebzehn bis neunzehn Jahren ein. Sie trägt ein elegantes, schwarzes Kleid,
welches vorne hochgeschlossen aber hinten tief ausgeschnitten ist. Der
ärmellose Schnitt offenbart, dass sich ihre Sommersprossen weit über das
Gesicht hinaus ziehen. Augen und Mund sind perfekt geschminkt und stehen in
einem gewissen Kontrast zur langen, rotblonden Mähne. Als sie sich hinsetzt,
packt sie eine stabförmige Apparatur aus, die sich als Lockenstab entpuppt und
über die kommende Stunde die Wildheit der Frisur der Eleganz der restlichen
Erscheinung anpasst. Die Steckdose musste sie nicht lange suchen –
offensichtlich nutzt sie die Bahnfahrt nicht erstmalig zum Stylen. Als die
Haare fertig sind, werden noch die Fingernägel sehr akkurat lackiert. Bis
Hamburg Dammtor gibt sie ein in sich stimmiges Bild ab. Respekt für so viel
Selbstvertrauen. Würde ich die Bahnfahrt zum Rasieren im Abteil nutzen? 2:1 für
die Bahn.
Auf freier Strecke vor Hamburg bleibt der Zug stehen und der
Zugchef murmelt etwas von Verkehr auf der Strecke. Der Zug fährt wieder an. Der
Zug bleibt wieder stehen. Der Zugchef murmelt etwas nur regelmäßig Bahnfahrenden
oder Bahnmitarbeitern Verständliches. Was ich verstehe ist „circa sieben
Minuten Verspätung“. Ich möchte zwar nur den S-Bahnanschluss erreichen, aber
eine Fahrt auf der Strecke zwischen Hamburg und Flensburg ohne Verspätungen
wäre auch mal nett. 2:2 gegen die Bahn.
In dem Kapstadt-Reiseführer, den meine wunderbare Frau mir
kurz vor der Abfahrt geschenkt hat, bin ich auf Seite 143 angekommen und habe
schon einiges über Geschichte, Natur, Sehenswürdigkeiten und – sehr wichtig –
die Küche der Kapprovinz gelernt. 3:2 für die Bahn.
Der Doppeldeckerzug nähert sich Hamburg Hauptbahnhof und ich
stehe wegen der Verspätung schon im Bereich der Türen. Von der Decke kommt ein
Edelstahlhandlauf herunter, vor dem ich mich in acht nehmen muss, da die Bahn
offenbar nicht an Menschen über 1,95 Meter gedacht hat. Eine Backpackerin
beobachtet mein Ausweichen amüsiert und stellt fest, dass ich im Gegensatz zu
ihr jedenfalls an den Handlauf heranreichen kann – was ich nur kurz später beim
abrupten Bremsen des Zuges auch muss. Sie fragt, ob ich auf dem Weg zum Airport
sei (Rollkoffer, Rucksack und Notebook-Tasche könnten mich verraten haben). Ich
bin auf dem Weg ins Hotel, da mein Flieger nach Südafrika morgen früh um sechs
Uhr geht. Sie will heute noch nach Island fliegen. Unsere Wege trennen sich und
auf dem Weg zu meiner S-Bahn schwelge ich in Bildern von Geysiren und Vulkanen.
4:2 für die Bahn.
In der S-Bahn spricht mich eine Endfünfzigerin mit Hund an,
ob ich Deutsch verstände. Dem Aussehen und Akzent nach könnte sie aus dem Iran
kommen. Ich bejahe ihre Frage und sie sagt mir mit einem breiten Lächeln, „Sie
sind ein sehr schöner Mann“. Sprach‘s und verlässt mit ihrem Hund den Zug, ohne
sich noch einmal umzudrehen. Das hört man(n) nicht aller Tage. Definitiv 5:2
für die Bahn.
Während ich noch etwas irritiert aber lächelnd der Dame mit
Hund nachblicke, reißt mich eine Stimme aus der Mitte des Wagens zurück in die
harte Realität des Bahnfahrens. Ein Bettler hält eine Ansprache und bittet um
Geld oder etwas zu essen. Er sieht nicht ungepflegt oder heruntergekommen aus.
Höflich spricht er jeden Fahrgast im Abteil an und wünscht jedem noch einen
schönen Abend, obwohl niemand ihm etwas gibt – ich auch nicht. So ist das Leben
und die Realität. Aber dieser Bruch war gerade zu hart für mich. 5:3 gegen die
Bahn.
Ich habe nicht lange Zeit über meine Schamgefühle
nachzudenken, dass ich dem freundlichen Bettler kaum in die Augen schauen
mochte. Ein offensichtlich alkoholisierter Mann pöbelt einen freundlich
dreinschauenden Mann auf dem Bahnsteig an und droht ihm für morgen Gewalt an.
Dieser reagiert gelassen, der Pöbler sammelt seinen Plastikbeutel mit Pfandgut
und diverse andere Taschen und einen Rucksack ein – und besteigt durch die Tür,
an der ich stehe, das Abteil. Seine Habseligkeiten purzeln auf den Boden, er
rafft sie wieder zusammen und lässt sich in einen Sitz fallen.
Plötzlich fängt er an, eine ältere Dame und ihren Begleiter
anzupöbeln, dass die Syrer uns das ganze Land wegnähmen und weitere
Ausländerfeindlichkeiten. Sie reagiert kaum. Er hat offensichtlich die gelbe
Plakette mit den drei schwarzen Punkten nicht bemerkt.
Er wechselt das Thema und beschimpft die beiden jetzt, dass
sie im dritten Reich doch auch die Schnauze gehalten hätten und dass sie dafür
den Tod verdienten. Er würde das erledigen, es ginge alles ganz schnell. Er
fängt an, in einer seiner Tüten zu wühlen, ich fange an zu überlegen, mit
welchem meiner Gepäckstücke ich einen Angriff abwehren könnte. Er zieht eine
leere Bierdose aus der Tüte, stopft sie wieder rein und wühlt weiter. Jetzt
zieht er eine leere Bierflasche heraus. Die Anschläge mit Axt und Messer in
einem Zug und einer Pistole vor einem Einkaufzentrum sind erst wenige Tage her.
Ich bin froh, dass es keine Pistole ist und warte, ob er den Boden der Flasche
abschlagen will. Er steckt auch die Flasche in seine Tüte zurück. Voller
Anspannung beobachte ich, was er weiter tut. Ich möchte den Besoffenen aber
auch nicht unbedingt mit meiner Aufmerksamkeit reizen.
Das ältere Paar verlässt die Bahn, der Säufer beruhigt sich
und schaut aus dem Fenster. Plötzlich erhebt er sich und stellt leicht wankend
fest, dass er hier doch aussteigen möchte. Ich sacke etwas in mir zusammen. 5:4
gegen die Bahn.
Beim letzten Erlebnis möchte ich nicht einfach einen Punkt
gegen die Bahn vergeben – das ist mindestens zwei Minuspunkte wert. Es steht
5:5 unentschieden.
Während ich diese Zeilen am Schreibtisch des Hotelzimmers
schreibe, meldet sich mein von den viel zu kleinen Sitzen im Regionalexpress geschundener
Rücken schmerzhaft wieder zurück. Ich werde in diesem Leben kein Bahnfahrer
mehr. Es steht 5:6 gegen die Bahn.