Mit der Bahn nach Carlisle, UK 2024

Mann mit Hund

Von Millom führt eine Bahnstrecke die gesamte westliche Küste von Cumbria hoch, knickt dann mit Schottland in Sicht ins Landesinnere ab und führt nach Carlisle. Über weite Strecken trennen die Bahnlinie und das Meer nur wenige Meter und es ist eine sehenswerte Landschaft – wenn man nicht wie wir an einem total verregneten Tag unterwegs ist. Wegen des Regens war meine Fotolust und -möglichkeit recht eingeschränkt. Aber als Flensburger mal in die Partnerstadt Carlisle zu gelangen, ist doch auch etwas. 😉

Wäre das Wetter besser gewesen, hätten sich an der Strecke noch Zwischenstopps z.B. im RSPB St Bees Head angeboten. Auch der Hadrianswall nahe Carlisle wäre sicher einen Besuch wert gewesen. So aber sind wir nach einem Stadtbummel wieder zurückgefahren.

Auf der Rückreise stiegen an der Haltestelle der Atomanlage Sellarfield sehr viele, teils recht verwegen aussehende Männer ein. Sehr viele von ihnen stiegen in Millom aus und in Kleinbusse um. Das brachte mich dazu, zu recherchieren, ob es ein Gefängnis in der Nähe gäbe. Das war tatsächlich der Fall. Warum zu einer der größten Nuklearanlagen der Welt täglich Massen von Gefängnisinsassen zur Arbeit pendeln – darüber möchte ich nicht weiter nachdenken.

RHS Harlow Carr, UK 2024

Etagenprimeln

Um RHS Harlow Carr zu besuchen, fuhren wir mit der Bahn von York nach Harrogate. Vom Bahnhof kann man einen Bus zum Garten nehmen oder einen längeren Spaziergang (knappe 3 km) machen. Dieser sehr schöne Spaziergang führt vom Stadtzentrum überwiegend durch die Valley Gardens Harrogate und einen Kiefernwald.

Im Garten angekommen haben meine Frau und ich uns sofort in zwei Dinge verliebt: Etagenprimeln und die bequemste Gartenbank, auf der wir je gesessen haben.

Update nach dem Urlaub: Die Primeln konnten wir bei einer örtlichen Gärtnerei für relativ kleines Geld über den Großhandel bestellen und sie sind ein Highlight im Vorgarten. Der Kauf der Bank hätte uns hingegen knappe zwei Urlaube in Großbritanien gekostet, so dass wir verzichtet haben.

Der Tag im Garten war sehr schön und wir haben viele Ideen entdeckt, die wir vielleicht zu Haus umsetzen werden. Und natürlich gab es auch das für England obligatorische, zahme Rotkehlchen, das um unsere Füße herum geflattert ist.

Das Alpine House war leider wegen Wind geschlossen. Die Blicke durch die Scheibe waren aber schon vielversprechend!

Sehr gut gefallen hat mir auch die Sammlung von Iris ensata, die ich bisher nicht so im Blick hatte.

Der Bahn eine neue Chance?

Als bekennender Bahnhasser hatte ich eine interessante Bahnfahrt von Flensburg nach Hamburg, die mich meine Ablehnung neu überdenken lässt.

0:1

Ein paar alkoholisierte, jugendliche Vollspacken dröhnen die anderen Fahrgäste mit einem miesen, deutschen Schlager über „meine Heimat ist Mallorca“ in einer Endlosschleife aus schlechten Lautsprechern zu und sich selbst dabei mit einigen Flaschen aus einer Kiste Flensburger Pilsener. Die Schaffnerin ermahnt sie zweimal zur Rücksichtnahme bis die grausige Beschallung nach vielen Zugkilometern endlich endet. Jetzt hört man sie dafür Rotze durch die Nasen hochziehen und Rülpsen – 0:1 gegen die Bahn.

1:1

Die Fahrt über die Eisenbahnbrücke von Rendsburg wird ausnahmsweise ein Plus für die Bahn. Wenn man bei der Reise durch Schleswig-Holstein schon aufgehalten werden muss, dann bitte mit so schönen Bildern dieses beeindruckenden Bauwerks und einem wunderbar rötlich, warmen Licht über der Landschaft. 1:1 für die Bahn.

2:1

Hinter Rendsburg steigt eine junge Frau – ein Mädchen? – von siebzehn bis neunzehn Jahren ein. Sie trägt ein elegantes, schwarzes Kleid, welches vorne hochgeschlossen aber hinten tief ausgeschnitten ist. Der ärmellose Schnitt offenbart, dass sich ihre Sommersprossen weit über das Gesicht hinaus ziehen. Augen und Mund sind perfekt geschminkt und stehen in einem gewissen Kontrast zur langen, rotblonden Mähne. Als sie sich hinsetzt, packt sie eine stabförmige Apparatur aus, die sich als Lockenstab entpuppt und über die kommende Stunde die Wildheit der Frisur der Eleganz der restlichen Erscheinung anpasst. Die Steckdose musste sie nicht lange suchen – offensichtlich nutzt sie die Bahnfahrt nicht erstmalig zum Stylen. Als die Haare fertig sind, werden noch die Fingernägel sehr akkurat lackiert. Bis Hamburg Dammtor gibt sie ein in sich stimmiges Bild ab. Respekt für so viel Selbstvertrauen. Würde ich die Bahnfahrt zum Rasieren im Abteil nutzen? 2:1 für die Bahn.

2:2

Auf freier Strecke vor Hamburg bleibt der Zug stehen und der Zugchef murmelt etwas von Verkehr auf der Strecke. Der Zug fährt wieder an. Der Zug bleibt wieder stehen. Der Zugchef murmelt etwas nur regelmäßig Bahnfahrenden oder Bahnmitarbeitern Verständliches. Was ich verstehe ist „circa sieben Minuten Verspätung“. Ich möchte zwar nur den S-Bahnanschluss erreichen, aber eine Fahrt auf der Strecke zwischen Hamburg und Flensburg ohne Verspätungen wäre auch mal nett. 2:2 gegen die Bahn.

3:2

In dem Kapstadt-Reiseführer, den meine wunderbare Frau mir kurz vor der Abfahrt geschenkt hat, bin ich auf Seite 143 angekommen und habe schon einiges über Geschichte, Natur, Sehenswürdigkeiten und – sehr wichtig – die Küche der Kapprovinz gelernt. 3:2 für die Bahn.

4:2

Der Doppeldeckerzug nähert sich Hamburg Hauptbahnhof und ich stehe wegen der Verspätung schon im Bereich der Türen. Von der Decke kommt ein Edelstahlhandlauf herunter, vor dem ich mich in acht nehmen muss, da die Bahn offenbar nicht an Menschen über 1,95 Meter gedacht hat. Eine Backpackerin beobachtet mein Ausweichen amüsiert und stellt fest, dass ich im Gegensatz zu ihr jedenfalls an den Handlauf heranreichen kann – was ich nur kurz später beim abrupten Bremsen des Zuges auch muss. Sie fragt, ob ich auf dem Weg zum Airport sei (Rollkoffer, Rucksack und Notebook-Tasche könnten mich verraten haben). Ich bin auf dem Weg ins Hotel, da mein Flieger nach Südafrika morgen früh um sechs Uhr geht. Sie will heute noch nach Island fliegen. Unsere Wege trennen sich und auf dem Weg zu meiner S-Bahn schwelge ich in Bildern von Geysiren und Vulkanen. 4:2 für die Bahn.

5:2

In der S-Bahn spricht mich eine Endfünfzigerin mit Hund an, ob ich Deutsch verstände. Dem Aussehen und Akzent nach könnte sie aus dem Iran kommen. Ich bejahe ihre Frage und sie sagt mir mit einem breiten Lächeln, „Sie sind ein sehr schöner Mann“. Sprach‘s und verlässt mit ihrem Hund den Zug, ohne sich noch einmal umzudrehen. Das hört man(n) nicht aller Tage. Definitiv 5:2 für die Bahn.

5:3

Während ich noch etwas irritiert aber lächelnd der Dame mit Hund nachblicke, reißt mich eine Stimme aus der Mitte des Wagens zurück in die harte Realität des Bahnfahrens. Ein Bettler hält eine Ansprache und bittet um Geld oder etwas zu essen. Er sieht nicht ungepflegt oder heruntergekommen aus. Höflich spricht er jeden Fahrgast im Abteil an und wünscht jedem noch einen schönen Abend, obwohl niemand ihm etwas gibt – ich auch nicht. So ist das Leben und die Realität. Aber dieser Bruch war gerade zu hart für mich. 5:3 gegen die Bahn.

5:4

Ich habe nicht lange Zeit über meine Schamgefühle nachzudenken, dass ich dem freundlichen Bettler kaum in die Augen schauen mochte. Ein offensichtlich alkoholisierter Mann pöbelt einen freundlich dreinschauenden Mann auf dem Bahnsteig an und droht ihm für morgen Gewalt an. Dieser reagiert gelassen, der Pöbler sammelt seinen Plastikbeutel mit Pfandgut und diverse andere Taschen und einen Rucksack ein – und besteigt durch die Tür, an der ich stehe, das Abteil. Seine Habseligkeiten purzeln auf den Boden, er rafft sie wieder zusammen und lässt sich in einen Sitz fallen.

Plötzlich fängt er an, eine ältere Dame und ihren Begleiter anzupöbeln, dass die Syrer uns das ganze Land wegnähmen und weitere Ausländerfeindlichkeiten. Sie reagiert kaum. Er hat offensichtlich die gelbe Plakette mit den drei schwarzen Punkten nicht bemerkt.

Er wechselt das Thema und beschimpft die beiden jetzt, dass sie im dritten Reich doch auch die Schnauze gehalten hätten und dass sie dafür den Tod verdienten. Er würde das erledigen, es ginge alles ganz schnell. Er fängt an, in einer seiner Tüten zu wühlen, ich fange an zu überlegen, mit welchem meiner Gepäckstücke ich einen Angriff abwehren könnte. Er zieht eine leere Bierdose aus der Tüte, stopft sie wieder rein und wühlt weiter. Jetzt zieht er eine leere Bierflasche heraus. Die Anschläge mit Axt und Messer in einem Zug und einer Pistole vor einem Einkaufzentrum sind erst wenige Tage her. Ich bin froh, dass es keine Pistole ist und warte, ob er den Boden der Flasche abschlagen will. Er steckt auch die Flasche in seine Tüte zurück. Voller Anspannung beobachte ich, was er weiter tut. Ich möchte den Besoffenen aber auch nicht unbedingt mit meiner Aufmerksamkeit reizen.

Das ältere Paar verlässt die Bahn, der Säufer beruhigt sich und schaut aus dem Fenster. Plötzlich erhebt er sich und stellt leicht wankend fest, dass er hier doch aussteigen möchte. Ich sacke etwas in mir zusammen. 5:4 gegen die Bahn.

Beim letzten Erlebnis möchte ich nicht einfach einen Punkt gegen die Bahn vergeben – das ist mindestens zwei Minuspunkte wert. Es steht 5:5 unentschieden.

5:6

Während ich diese Zeilen am Schreibtisch des Hotelzimmers schreibe, meldet sich mein von den viel zu kleinen Sitzen im Regionalexpress geschundener Rücken schmerzhaft wieder zurück. Ich werde in diesem Leben kein Bahnfahrer mehr. Es steht 5:6 gegen die Bahn.